Das Schweigen des Lichts (B00G5CF18I) by Tahar Ben Jelloun

Das Schweigen des Lichts (B00G5CF18I) by Tahar Ben Jelloun

Autor:Tahar Ben Jelloun [Jelloun, Tahar Ben]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: eBook Berlin Verlag
veröffentlicht: 2003-10-26T04:00:00+00:00


18Sie war vom Himmel gefallen wie eine Botschaft oder ein Irrläufer: Eine Taube war in den zentralen Belüftungsschacht geschlüpft und in das dichte Schweigen unserer Finsternis gefallen. Der Ustad Gharbi war sich sicher:

– Es ist eine Taube, ich kenne mich da aus.

Niemand mochte ihm widersprechen. Für uns war es ein Himmelsgeschenk, weder eine Beerdigung noch ein Schmerzanfall. Wir erlebten etwas, das niemand hatte vorausahnen können.

Die Taube flatterte herum und stieß sich an den Wänden. Der Ustad lockte sie mit gurrenden Lauten. Sie versuchte, in seine Zelle zu gelangen, fand aber keine Öffnung. Sie hatte sich in einer Ecke niedergekauert und schlief wahrscheinlich. In die erste Zelle, die die Wärter öffneten, flatterte sie hinein. Sie war bei Mohammed zu Gast. Die Wärter hatten es nicht bemerkt. Wie üblich hatten sie möglichst schnell ihre Bohnen loswerden und wieder verschwinden wollen.

Mohammed war glücklich wie ein Kind. Er redete mit der Taube, sagte uns, dass sie ein Wink des Schicksals sei und wir sie pflegen und zu unserem Boten machen müssten.

»Wir nehmen sie auf und geben ihr einen Namen. Sie wird unsere Gefährtin werden und wir zähmen sie, damit sie Botschaften nach draußen bringen kann, zu unseren Familien, vielleicht sogar zu den Menschenrechtlern …«

Der Ustad meinte:

»Du solltest sie an mich weitergeben, dann bringe ich ihr die Namen Gottes bei. Alle Tauben kennen Allah.«

Der sonst so stille Bourras, die Nummer 13, war sehr aufgedreht wegen unseres Besuchs.

»Wir nennen sie Hourria: Freiheit!«

Mohammed fütterte die Taube und sagte zu ihr:

»Hourria, du unsere Freiheit, du bist mit einer Botschaft zu uns gekommen. Ich bin sicher, dass du nicht zufällig vom Himmel gefallen bist. Wer hat dich geschickt? Du trägst weder einen Ring noch einen Brief. Also hat Gott dich in dieses Loch geführt.«

Sein Nachbar Fellah, die Nummer 14, wurde poetisch.

»O Taube, Symbol des Friedens und der Freude, du bist heute hier, weil Gott sich unserer erbarmt hat und uns eine Begnadigung des Königs erwartet. Wir sind ja schließlich nicht verantwortlich für das, was andere getan haben.«

Unsere Zeitansage griff kategorisch ein:

»Es ist nicht die Art des Palastes, uns durch eine Taube zu informieren. Sollten wir eines Tages begnadigt werden, werden wir es durch besseres Essen und einen Arztbesuch merken. Wenn sie uns freilassen, müssen wir bei leidlicher Gesundheit sein. Dennoch ist diese Taube eine Wohltat Gottes. Sie bringt uns ein wenig Zerstreuung.«

Mohammed war nicht einverstanden:

»Zerstreuung? Nein, das hier ist ein Ereignis. Jemand schickt uns eine Botschaft. Ich behalte sie erst mal, sie leistet mir Gesellschaft.«

Die anderen protestierten.

– Nein, sie gehört uns allen, sagte Bourras.

– Gehen wir demokratisch vor: Wir teilen sie gerecht zu. Sie bleibt einen Tag und eine Nacht lang bei jedem reihum, meinte Fellah.

So wanderte Hourria bei der Essenausgabe von einer Zelle zur anderen. Die Wärter machten sich über uns lustig. Einer sagte:

»Esst sie nicht lebendig auf, davon bekommt ihr Magenkrämpfe.«

Ein anderer fügte hinzu:

»Vielleicht ist sie präpariert und trägt die Erreger einer ansteckenden Krankheit. Ihr solltet sie umtaufen und sie El Mouth, den Tod, nennen.«

Eine Sekunde lang glaubte ich ihm. Doch die perverse Logik, deren Opfer wir waren, passte nicht zu dieser Annahme.



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